Götz Werner, das Hardenberg Institut und die Dialogische Führung
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Persönlicher Rückblick auf 30 Jahre einer freundschaftlichen Zusammenarbeit
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von Karl-Martin Dietz
Die „Drogerie Werner“ seines Vaters lag schräg gegenüber dem Haus in der Heidelberger Hauptstraße, in dem ich meine Kindheit verbrachte und in dem seit seiner Gründung das Hardenberg Institut beherbergt ist. In diesem Haus befand sich noch einige Jahre nach dem 2. Weltkrieg die alteingesessene „Bäckerei Dietz“, deren letzter Bäckermeister, mein Vater, aus dem Krieg nicht zurückgekommen war. Unsere Mütter kannten sich als benachbarte Geschäftsfrauen und sprachen öfter miteinander. Aber wir Söhne – Götz war ein gutes Jahr älter als ich – sind uns damals nicht begegnet. Bei seinen späteren Besuchen im Institut kam er öfter auf diese alte „Nachbarschaft“ zurück.
Der Mantel
Begegnet sind wir uns erst wesentlich später. Wir lernten uns kennen durch die Vermittlung eines gemeinsamen Bekannten, des Wirtschaftsprüfers Dr. Benediktus Hardorp. Herr Hardorp arrangierte eines Tages einen Besuchstermin in Götz Werners Wohnung und nahm mich im Auto mit nach Karlsruhe. Gleich in der Tür – wir hatten uns vorher nur flüchtig gesehen – musterte mich der Hausherr von unten nach oben, verschwand kurz wortlos und kam zurück mit einem grünen Lodenmantel. „Der müsste Ihnen passen.“ Hardorp protestierte verhalten, ich sei doch nicht so arm; Frau Werner protestierte vernehmlicher („Das kannst du doch nicht machen!“), und ich, der Beschenkte, dachte: „Das fängt ja gut an!“ und – was blieb mir übrig? – nahm zögernd dankend an. Erst in den nächsten Minuten wurde klar, dass die unverhoffte Gabe nicht etwa durch den Anblick meines eigenen, doch eigentlich gar nicht so schäbigen Outfits veranlasst worden war. Der noch ungetragene Mantel stammte aus einer Fabrikation, an der Werner beteiligt war. Er hatte ihn für sich selbst kommen lassen, doch war er ihm zu kurz (zuhause fand meine Frau, der Mantel sei mir zu lang). War diese etwas skurrile Erstbegegnung nun exemplarisch für Kommendes, womit man bei Götz Werner rechnen musste? – Niemand der Beteiligten konnte ahnen, dass dies der Auftakt zu einer 30-jährigen und in einem etwas anderen Sinne „nachbarschaftlichen“ Beziehung werden sollte. –
Im Rückblick fand ich, dass hier zwei unterschiedliche Bilderwelten halbbewusst aufeinandergestoßen sein mochten: Bei mir (und vermutlich auch bei Herrn Hardorp) so etwas wie „Sankt Martin und der Bettler“: der eine hoch zu Ross, der andere unten im Staub. Bei Götz Werner hingegen war es vermutlich eher das Unternehmerverständnis in Max Webers „protestantischer Ethik“: Der sparsame Unternehmer vermeidet jede Vergeudung; sucht also für einen nicht passenden Mantel eine adäquate Verwendung, statt ihn wegzuwerfen. – Erkenntnistheoretisch betrachtet: ein Beispiel für das bekannte Phänomen, dass wir ständig geneigt sind, unsere Wahrnehmungen nicht danach zu befragen, was sich in ihnen möglicherweise ausspricht, sondern sie von vorneherein mit mitgebrachten Vorstellungen zu überlagern, ohne es zu bemerken. Später wurde mir klar, dass mit der Unterscheidung von Wahrnehmung und Vorstellung auch ein Grundanliegen Götz Werners berührt war. Die Dinge so zu nehmen, wie sie von sich aus sind, ohne sie gleich Deutungen zu unterwerfen, nannte er, über den üblichen Sprachgebrauch hinaus, „Wahrnehmung“. Er legte damals seinen Mitarbeitern immer wieder nahe, der Welt „wahrnehmend“ (im hier gemeinten Sinne) gegenüberzutreten.
Das Gespräch beim Kaffee verlief außerordentlich lebendig. Auf Anregung Hardorps hatte ich mein Buch „Die Suche nach Wirklichkeit“ mitgebracht, auf dessen Themenstellung Götz Werner sogleich einging. Er fand darin sein eigenes langjähriges Anliegen von einer anderen Seite her angesprochen. Er hat dieses Buch dann auch im Kreis seiner Führungskräfte verteilt.
Wenig später wurde ich zusammen mit meinem Kollegen Thomas Kracht eingeladen, im Führungskreis von dm (heute: die Geschäftsführer) Vorträge zu halten. Wir hatten hinterher beide nicht den Eindruck, bei den Praktikern der Wirtschaft besonders gut „angekommen“ zu sein. Aber Götz Werner focht das nicht an. Er lud uns bald wieder ein. – Er besuchte uns auch selbst im Hardenberg Institut. Bei der Verabschiedung nach einem Wochenendseminar über Zeitfragen sagte er unvermittelt: „Könnten Sie nicht auch mal etwas für meine Leute machen?“ – Auf meine erstaunte Rückfrage, worum es sich denn handele, sagte er nur: „Das müssen Sie selbst herausfinden.“ Ich dachte erst, er zieht mich auf. Aber es war ernst gemeint. Wir möchten doch mit seinen Mitarbeitern selbst sprechen. So kam es, dass zwei Mitwirkende am Hardenberg Institut (Angelika Leibrock, heute Sandtmann, und Rudy Vandercruysse) über ein ganzes Jahr hin die verschiedenen Bereiche von dm-drogerie markt aufsuchten, dort für einige Zeit mitarbeiteten und mit den Kollegen ins Gespräch kamen. Sie erfuhren dabei, dass es kurz zuvor eine Umstrukturierung bei dm gegeben hatte, durch die den Filialleitern eine größere Entscheidungskompetenz zukam als zuvor, so dass sie jetzt viele Dinge selbst entscheiden mussten, die vorher von „Bezirksleitern“ erledigt worden waren. Das hatte im Vorfeld zwar auch Befürchtungen hervorgerufen, aber bei Vielen, die die Herausforderung angenommen hatten, ein zwiefaches Gefühl erzeugt: Zu der Freude über das Zutrauen des Chefs und über die neue Eigenständigkeit kam andererseits die Erfahrung, jetzt unter Umständen mehr zu „dürfen“ als man schon „konnte“. Wie können wir der Eigenständigkeit noch besser gerecht werden? Diese Fragestellung erwartete uns in unseren ersten Seminaren bei dm. Einen besseren Einstieg in eine Seminartätigkeit kann es eigentlich nicht geben! – Doch zunächst noch einmal zurück:
Die ersten Seminare
Schon bald wurden wir aufgefordert, ein dreitägiges Seminar für das höhere Management zu entwerfen. Da die beiden Kollegen, die mit den Mitarbeitern von dm gesprochen hatten, aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Verfügung standen, sprangen Thomas Kracht und ich ein. Zur Vorbereitung trafen wir uns mehrmals mit einigen der künftigen Teilnehmer, um Thematik und Vorgehensweise zu konkretisieren.
Ein Gast, selbst „externer Referent“ bei dm (wie man das später nannte), der dort bereits viel für die Organisationsentwicklung getan hatte, beschwerte sich heftig über unsere Arbeitsweise (nicht professionell, zu langsam, teilweise langweilig usw.). Wir nahmen (zu Recht) an, dass dieser Brief nicht nur an uns geschickt worden war. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, saß Götz Werner ein paar Wochen später in unserem dritten und vorerst letzten Seminar. – In der ersten Pause rief er quer durch den Raum zum Personalchef: „Herr B., was machen wir denn mit unseren Filialleitern?“ Der wurde bleich, nahm seinen Taschenrechner und sagte besorgt: „Das kostet uns soundsoviel.“ Er nannte eine in meinen Augen horrende Summe. Betretene Stille. Um die Situation etwas aufzulockern, bemerkte ich halblaut: „Aber an unseren Honoraren kann das doch nicht liegen?“ und wurde dann von zwei heiteren Herren aufgeklärt, was alles in die Kalkulation eines Unternehmensseminars einfließe. Größter Posten: der Arbeitsausfall der Teilnehmer!
So erhielten wir den Auftrag, Seminare zu entwickeln für sämtliche Führungskräfte, vom Filialleiter aufwärts. Diese fanden sich ein, nach Gebieten und Regionen aufgeteilt, zusammen mit ihren Gebietsverantwortlichen und den entsprechenden Teilnehmern aus der Zentrale. An der Spitze jeweils der Regionalverantwortliche.
Im Laufe der Zeit trat bei vielen Teilnehmern das Bedürfnis nach Fortsetzung und Vertiefung auf. Es gab deshalb bald ein weiteres Seminar zu dem Thema „Führung als Selbstführung“, in dem Gesichtspunkte zum Umgang mit sich selbst erarbeitet wurden.
Dialogische Führung
Nach einem ersten Durchgang warf Götz Werner die Frage auf: „Was folgt danach?“ – Einige Teilnehmer hatten auch schon ihre Bedürfnisse angemeldet in Richtung „Verstehen und Mitteilen“. In weiteren Gesprächen versuchten wir, das Anliegen besser zu verstehen. Ergebnis war das sogenannte „Dialog-Seminar“. Hier konnte ich Vorüberlegungen aus anderem Zusammenhang einbringen. – Das zuerst gehaltene Seminar, nunmehr im dm-Jargon als „Wahrnehmungsseminar“ bezeichnet, sollte aber daneben fortgesetzt werden, da wegen der starken Expansion ständig neue Mitarbeiter hinzukamen.
Hinzu kam auf Anfrage von Teilnehmern bald noch ein weiteres Thema: „Praktische Führung durch Dialog“. Diese vier Seminare entwickelten sich zu einer Art Grundlegung der Unternehmenskultur. Bald sprach man von „Dialogischer Führung“, später auch von „Dialogischer Unternehmenskultur“. Im Geleitwort zu einer Publikation von mir fasste Götz Werner das Anliegen so zusammen: „‘Dialogische Führung’ arbeitet an der Frage, wie möglichst viele Mitarbeiter eines Unternehmens oder einer Organisation in eine individuelle unternehmerische Disposition gelangen und wie sie aus einer solchen heraus fruchtbar zusammenarbeiten können.“ „Führung“ hieß für Götz Werner, Anstoß zur Selbstführung zu geben und das geeignete Umfeld bereitzustellen.
Unternehmens-Akademien
Um Dialogische Führung nachhaltig zu realisieren, genügt es nicht, einige Seminare zu besuchen und danach die Sache wie einen Selbstläufer zu behandeln. Diese Erfahrung kam uns später auch in anderen Unternehmen entgegen. – Zunächst und aus einer ersten Begeisterung beteiligten sich offenbar die meisten Führungskräfte, jede auf ihre Weise, an der Realisierung der Dialogischen Führung. Nach einigen Jahren aber fiel uns auf, dass – wie auch nicht anders zu erwarten – hier und da Widersprüche auftraten zwischen Denken/Sprechen und Handeln. Das schien uns nicht ganz ungefährlich. „Dialogische Führung“ sollte ja nicht zu einer Sprachregelung verkommen. Wir machten Götz Werner vorsichtig darauf aufmerksam. Er reagierte sofort und bat uns, die entsprechenden Punkte aufzuschreiben. Thomas Kracht übernahm die Formulierung, und wir achteten darauf, keine Namen zu nennen und auch nicht indirekt Schlüsse auf bestimmte Personen nahezulegen. Denn wir wollten ja keine Selbstverteidigungen provozieren, sondern ein Nachdenken über Gestaltungsfragen für die Zukunft. Götz Werner fragte uns nie, auch nicht „im Vertrauen“, nach den Namen der Betroffenen. Er verteilte das Schreiben sofort an die Mitglieder seines Führungskreises (heute: die Geschäftsführer). Mit diesen zusammen sind wir dann die verschiedenen Punkte durchgegangen; die Stimmung unter den Anwesenden war durchgehend positiv. – Unter den verschiedenen Vorschlägen, die in der Runde gemacht wurden, war einer recht vage formuliert, aber besonders folgenreich: Wäre es nicht zur laufenden Belebung der Dialogischen Kultur sinnvoll, wenn die Anwesenden mit ihren engsten Mitarbeitern gelegentlich mehrtägige „Akademien“ durchführten? – Diese Anregung wurde von fast allen im Laufe der Zeit aufgegriffen, und es gab über Jahre hin eine Reihe von sehr unterschiedlichen, individuell vorbereiteten Treffen, mal in ländlicher Abgeschiedenheit, mal unter bewusstem Einbezug kultureller Angebote (z. B. in Weimar, Leipzig, Dresden, Wien, Potsdam); immer im Fokus: die Dialogische Unternehmenskultur.
Lehrstuhl in Karlsruhe
Eines Tages lud mich Benediktus Hardorp, der eingangs schon erwähnt wurde, ein, einem Arbeitskreis von etwa zehn Unternehmern aus verschiedenen Gegenden Deutschlands beizutreten, dem auch Götz Werner angehörte. Wie ich erst viel später erfuhr, hatte er mit Unterstützung Werners dem Kreis meine Kooptation nahegelegt – ich verfügte ja nicht über Läden oder Fabriken, war also nicht „Unternehmer“ im geläufigen Sinn – mit dem Bericht, dass ich eine Beamtenstelle auf Lebenszeit an der Universität Heidelberg aufgegeben hätte, um mich dem Aufbau eines wirtschaftlich ganz ungesicherten Forschungsinstituts zu widmen. Für Götz Werner ebenso wie für Benediktus Hardorp war Unternehmersein in erster Linie eine Frage der inneren Haltung, nicht eine Vermögensfrage.
In diesem Arbeitskreis gab es ein gewisses gemeinsames Grundverständnis, aber im Einzelnen konnte hart argumentiert und gerungen werden. Ich war wiederholt nicht derselben Ansicht wie Götz Werner und wandte mich sogar (mit ausführlicher Begründung) gegen ein Vorhaben, das er und Hardorp mit Billigung der anderen vorangetrieben hatten. Er war erkennbar überrascht von meiner Distanzierung und den ins Feld geführten Gesichtspunkten. Dem vertrauensvollen Verhältnis zwischen uns hat das jedoch keinen Abbruch getan.
Eines Tages berichtete Götz Werner in diesem Kreis von einer Einladung der Universität Karlsruhe, für einige Jahre den Stiftungslehrstuhl für Entrepreneurship zu übernehmen, und fragte die Umsitzenden, ob sie ihm zuraten könnten. Zu meiner Überraschung – denn ich konnte ihm nur lebhaft zuraten – bewegte sich das Votum des Kreises zwischen starker Skepsis und unbedingter Ablehnung.
Nachdem er sich zur Zusage entschlossen hatte, bat er manche Menschen in seinem Umkreis, ihn dabei zu unterstützen. So auch uns im Hardenberg Institut. Einer unserer Mitwirkenden, der Diplomvolkswirt Peter Dellbrügger, wurde Mitarbeiter am Lehrstuhl in Karlsruhe. Thomas Kracht und ich sagten u. a. ein Seminar zur Dialogischen Kultur für die Studenten zu. Viele andere übernahmen anderes. Götz Werner hielt die Hauptvorlesung und erklärte gleich zu Beginn, er selbst habe gar nicht studiert, nicht einmal Abitur gemacht, sondern sei von Beruf „Zahnpasta-Verkäufer“. Entsprechend originell verliefen seine Vorlesungen, die er gründlich vorbereitete. Am Ende seiner ersten Vorlesungsstunde hörte jemand, wie eine Studentin zu ihrem Nachbarn sagte: „Eine Vorlesung war das ja nicht gerade. Aber interessant war’s!“ Überhaupt waren offenbar viele gekommen – der große Hörsaal war dicht besetzt –, um vor allem von dem erfolgreichen Unternehmer Tipps für den eigenen Erfolg zu bekommen (dem wohl sein Vorgänger auf dem Lehrstuhl in reichem Maße entsprochen hatte). Götz Werner aber machte es anders: er entwickelte Grundgedanken für eine sinnvolle Gestaltung der Ökonomie innerhalb der Gesamtgesellschaft und für die Rolle von Unternehmen darin, durchsetzt mit anschaulichen Beispielen aus der Praxis.
Im Hardenberg Institut
Er kam aus den verschiedensten Anlässen immer wieder ins Hardenberg Institut, zu Gesprächen, zu einem Arbeitskreis in größeren Abständen über mehr als vier Jahre hin, oder auch zu kleineren und größeren Kolloquien, zu denen er teilweise selbst den Anstoß gegeben hatte. Gelegentlich auch zu Vorträgen. Besonders beeindruckend war für mich sein Vortrag bei der öffentlichen Feier des 30-jährigen Institutsjubiläums am 5. April 2008. Das werde ich näher begründen. Zunächst aber möchte ich Götz Werner selbst ein Stück weit zu Wort kommen lassen.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen verschwand er, um noch zwei seiner Filialen in der Stadt zu besuchen, und fand sich dann auf die Minute pünktlich zu seinem Vortrag ein, den er so begann:
„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sehr verehrte Kundinnen und Kunden. [Amüsiertes Gemurmel]
Nachdem ich schon lange dem Hardenberg Institut verbunden bin, ich persönlich und auch als Unternehmer dem Hardenberg Institut viel zu verdanken habe, ist es mir natürlich eine besondere Freude, erstens, dass Sie dieses 30-jährige Jubiläum feiern können, zum andern, dass Sie mich auch dazu eingeladen haben, hier in diesem offenen Quartett mitzuspielen. Ich freue mich auch, dass viele Kolleginnen und Kollegen aus unserem Unternehmen da sind, sicherlich nicht meinetwegen, sondern um Ihnen eine Reverenz zu erweisen. Denn das Hardenberg Institut macht nun schon seit Jahren eine sehr intensive Arbeit in unserem Unternehmen, für Manager und Filialleiter, in unterschiedlichen Abteilungen, immer mit dem Ziel der Persönlichkeitsentwicklung. Darum geht es doch letzten Endes, und darum geht es auch bei meinem Vortrag.“
Zunächst spricht er von einem selbstwidersprüchlichen Menschenverständnis:
„Stellen Sie sich mal vor, wir wären alle Giraffen. Das ist vielleicht nicht so gut, weil der Raum nicht so hoch ist. Also, dann nehmen wir Antilopen. […] Also, wir wären alle Antilopen, dann wäre eines sicher: dass wir auch als Antilopen sterben würden. Weil Antilopen, so wie ihren ganzen Brüdern und Schwestern in der Tierwelt, natürlich eines zu eigen ist: sie sind begrenzt in ihren Möglichkeiten. Man könnte sagen: sie sind determinierte Reiz-Reaktions-Wesen. Es gibt aber auch Wirtschaftswissenschaftler und Marketingleute, die behaupten das auch von den Menschen, sie seien determinierte Reiz-Reaktions-Wesen. Ich habe allerdings noch keinen gefunden bei denen, die das von ihren Mitmenschen behaupten, der das auch auf sich persönlich anwendet. […]“
Menschen, so führte er weiter aus, seien doch ergebnisoffene Wesen, in ihrer Entwicklung nicht determiniert. Und davon auszugehen, nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei den Mitmenschen, erzeuge ein „ganz anderes soziales Klima.“ Die große Problematik im Sozialen sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, „dass die meisten Menschen zwei Menschenbilder haben, nämlich eines von sich, das ist das ergebnisoffene; von ihren Mitmenschen haben sie jedoch eher ein determiniertes Menschenbild. Das ist das Problem. […]“
Unter der geläufigen Maxime „,Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser’ ist es schwierig zusammenzuarbeiten, Gemeinschaften zu bilden, die in der Lage sind, wie es Herr Hüther [der Hirnforscher Gerald Hüther am Vormittag] vorhin dargestellt hat, über sich hinauszuwachsen. […] Wir verbinden uns zu Arbeitsgemeinschaften, damit wir in dieser Gemeinschaft dadurch mehr erreichen können, eine ganz andere qualitative Dimension erreichen können, als wenn wir es alleine machen. […]“
Durch Zusammenarbeit auf Grundlage dieser Einsicht werde nicht nur quantitativ mehr erreicht, sondern auch qualitativ: Die Taten der Menschen sind dann nicht nur addierbar, sondern sie verändern ihren Charakter dadurch, dass sie aufeinander einwirken, sich wechselseitig anregen. Und so bleiben auch die handelnden Menschen nicht einfach so, wie sie vorher waren, sondern sie entwickeln sich.
Das hat eine meist unterschätzte oder auch gar nicht bemerkte Folge für die Zusammenarbeit:
„Die Frage ist dann für uns, wie können wir uns Einsichten verschaffen, dass wir diese Problematik, unsere soziale Problematik, uns in einer Weise bewusst machen, dass wir dann Wege finden, um Rahmenbedingungen zu generieren in unserer Gesellschaft, die erhoffen lassen, dass wir als Menschen […] nicht nur unsere Talente einbringen können, sondern dass wir uns auch dadurch weiterentwickeln können, über uns hinauswachsen können, dass wir dadurch auch in angemessener Weise die Welt gestalten können.“
Damit erklärt Götz Werner zugleich, warum er in seiner Unternehmensführung auf selbstständige Menschen setzt. „Leistung“ geht vom Einzelnen aus und dient der Gesamtheit (s. u.) – dient nicht als Grundlage zur Bewertung innerhalb einer organisatorisch vorgegebenen Zielsetzung – eine Umkehrung der traditionell vorherrschenden Ansicht! – Bei Licht betrachtet entspringt individuelle Leistung nicht einer Vereinzelung, sondern der Einzelne lebt in dem Bewusstsein, dass er sie gar nicht alleine erbringen kann:
„Jeder von uns ist darauf angewiesen, dass andere für ihn sorgen, man könnte auch sagen, dass andere sich für ihn interessieren. […] Wir kommen zusammen, um miteinander füreinander zu leisten. Und dass wir dabei so große Probleme haben, liegt eben daran […], dass wir immer noch meinen, die Leistung, die wir generieren, sei allein unsere Leistung. – Das ist natürlich ein großer Irrtum, denn immer dann, wenn wir leisten, stehen wir auf den Schultern der Gemeinschaft, stehen wir auf den Schultern des Kulturstroms, ohne den unsere Leistungen von heute gar nicht möglich wären. Wir arbeiten ja heute in solch komplexen, arbeitsteiligen Wertbildungsprozessen, dass eigentlich niemand mehr die Leistung für sich reklamieren kann.“
Daher müsse man das Verhältnis zwischen den einzelnen Menschen und damit auch das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft neu denken. Praktisch gesehen: Unser Handeln innerhalb einer Gemeinschaft ist nicht durch dort etablierte Traditionen oder Normen festgelegt, sondern wir sind selbst der „Ursprung“ unseres Handelns (so der Wortsinn von „Initiative“). Aber es geht darüber noch hinaus: nicht nur handeln wir, jeder Einzelne selbst, initiativ, sondern wir sorgen mit unserem Handeln zugleich dafür, dass die Anderen ebenfalls initiativ handeln können:
„Wenn ich weiß, dass ich für mich gar nicht selbständig tätig sein kann und dass es mir nur so gut gehen kann, wenn andere für mich tätig sind – und das gilt für die ganze Volkswirtschaft genauso wie für die Unternehmen –, dann muss es ja in meinem Interesse sein, dass möglichst viel Initiative ergriffen wird. Es kommt dann gar nicht so sehr auf meine Einzelinitiative an […], sondern es kommt viel, viel mehr darauf an, dass Andere Initiative ergreifen. […] Wie bringen wir es fertig, dass wir unsere Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft stellen? […] Je mehr die Menschen ihren eigenen biografischen Weg suchen, den Ariadne-Faden ihres Schicksals zu finden versuchen, desto besser ist es für die Gesellschaft. Deswegen z. B. die Seminare mit der Zielsetzung Persönlichkeitsentwicklung mit dem Hardenberg Institut.“
Im Zentrum der Führungsfrage steht deshalb:
„Wie schaffen wir Rahmenbedingungen, dass die Menschen ihren Schicksalsfaden finden und dass sie den dann auch in die Hand nehmen können? Wenn man seinen Schicksalsfaden finden will, dann muss man ihn selbst finden. Da helfen Vorschriften und Lehrpläne wenig. Also: Wie schaffen wir Räume, die so sind, dass der Einzelne in gewisser Weise auf sich selbst zurückgeworfen ist, aber dann auch die Kraft der Gemeinschaft spürt, um sein Leben zu gestalten; dass er bereit ist, sich zu ändern, dass er bereit ist, Risiko auf sich zu nehmen, dass er bereit ist, mal was Neues zu machen, dass er bereit ist, loszulassen, sich auf etwas Neues einzulassen? – Das schaffen Sie natürlich nicht, wenn Sie den Menschen permanent drohen nach dem Motto ,Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser’. Sie verhalten sich nach diesem Motto, wenn Sie dem Mitmenschen täglich unterstellen, dass er sofort etwas anderes macht, wenn Sie ihn nicht immer voll im Griff haben.“
Danach spricht Götz Werner ausführlich über sein spezielles Anliegen: die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Über dieses wird ja seither viel gesprochen und geschrieben, aber nicht immer aus Werners ursprünglicher Perspektive. In diesem Vortrag wird deutlich: Seine Unternehmensführung und seine Idee des Grundeinkommens gehen in die gleiche Richtung: Ihr Sinn ist, andere in die Lage zu versetzen, aus eigener Initiative tätig zu werden – und dieses Tätigwerden nicht zu behindern durch präformierte Führungskonzepte oder überholte Sozialordnungen. –
Die Inhalte dieses Vortrags im Einzelnen sind gewiss auch an anderer Stelle geäußert worden. Seine besondere Bedeutung sehe ich in der Engführung von „Führung“ und „Zulassen“. Die beiden Gesten wirken, richtig verstanden, nicht gegeneinander, etwa die eine aktiv und die andere passiv. Sondern sie wirken miteinander im gleichen Sinne. Initiatives Handeln hat zwei Seiten: eigenständig tätig zu werden einerseits und andererseits durch vertrauensvolles Zulassen die Initiative anderer Menschen zu wecken. So entsteht gemeinschaftliches Handeln.
Besonders mit dieser Doppelgeste des „Machens“ und des „Zulassens“ steht mir Götz Werner im Rückblick vor Augen.
Zehn Jahre später, zum 40. Jubiläum des Instituts im April 2018, ließ er es sich nicht nehmen, trotz seiner zunehmenden Schwäche an der Eröffnungsveranstaltung teilzunehmen und in der Pause lebhaft mit anwesenden Unternehmerkollegen, mit Mitarbeitern von dm und mit Leuten aus dem Institut zu sprechen.
Das war sein letzter persönlicher Besuch im Hardenberg Institut.
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Wir blicken heute nach etwa 30 Jahren zurück auf ein vieldimensionales, immer wieder neu ergriffenes Geflecht von Begegnungen mit Götz Werner auf den verschiedensten Ebenen. Niemand konnte zu Beginn planen oder auch nur absehen, was sich alles ereignen würde. Der Rückblick auf diese Zeit erfüllt mich und uns mit großer Dankbarkeit. In diese Dankbarkeit möchte ich heute auch denjenigen einschließen, der vor Jahrzehnten die erste Begegnung zwischen Götz Werner und mir angestoßen hat: Benediktus Hardorp.
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