Carpe diem oder: vom Wert des Augenblicks
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von Karl-Martin Dietz
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Liebe Freundinnen und Freunde …,
mit dieser Anrede bringe ich – etwas ungewohnt – ein Opfer an den Gott des Genderns. Um der Sprache nicht Gewalt anzutun, füge ich allerdings hinzu, dass ich im Weiteren nur die maskuline Form verwenden werde (als generisches Maskulinum), dabei also immer auch den anderen Teil der Menschheit, die Frauen, im Blick habe und mitmeine. – Nein, Unsinn! Nicht, dass ich Frauen und Männer im Blick habe, ist hier das Entscheidende, sondern dass ich in den Menschen beiderlei (und ggf. auch weiteren) Geschlechts den Menschen (und nicht seine geschlechtsspezifische Erscheinungsform) meine. Also nochmal:
Liebe Freunde des Hardenberg Instituts,
der Dichter Horaz zur Zeit des Kaisers Augustus in Rom fand, wie viele seiner Zeitgenossen, jegliche Zukunft ziemlich unsicher. Und er wusste eine Alternative: In einem kurzen Gedicht fordert er seine Geliebte Leukonoe auf, sich nicht weiter um ihr künftiges Leben zu sorgen. Das Gedicht (carm. 1,11) endet mit dem seither sehr bekannt gewordenen Vers:
„Genieße den Tag und setz’ auf den kommenden wenig Vertrauen!“
Diese Haltung geht zurück auf den 271 v. Ch. in Athen verstorbenen Philosophen Epikur, zu dessen Followern sich Horaz zählte. Er bezeichnete sich selbst einmal ironisch als „ein Schwein aus der Herde Epikurs“. Zum höchsten Ziel des Lebens ernannte Epikur die „Lust“, was vordergründig auf die körperliche Lust bezogen wird. Aber dahinter stand noch etwas anderes: die Freiheit von Unlust, der angestrebte Übergang der täglichen Unlust (heute z. B. „Stress“) in ihr Gegenteil. Dazu gehört für Epikur vor allem, von den Unbilden der Zeit möglichst wenig an sich heranzulassen, das Getriebe der Welt zu meiden („Lebe im Verborgenen!“) und eine „Gemütsruhe“ im Sinne von „Meeresstille“ (galene) zu pflegen. Alles Sinnen und Trachten über den Tag hinaus galt ihm als kontraproduktiv.
„Schöpfe aus, was dir der Tag bietet!“ wäre vielleicht eine adäquate Formulierung angesichts der heute aktuellen Erfahrung, dass vorausschauende Planung und damit auch eine linear durchgängige Lebensführung immer weniger möglich werden. Im Wirtschaftsleben, in dem „Planung“ und anschließende „Kontrolle“ des tatsächlich Getanen seit mehr als einem Jahrhundert eine im (wörtlichen Sinne) „führende“ Rolle spielten, führt dieses Phänomen zu Umbrüchen in allen Bereichen der Organisation. Man spricht heute allgemein von einer Welt, in der Volatilität, Unsicherheit, Complexität und Ambiguität (Verkürzt zum Akronym VUCA) zur täglichen Herausforderung werden und eine länger vorausschauende Planung („strategische Planung“) oftmals unmöglich machen. Wer das gewohnte Planungsverhalten heute noch beibehält, muss immer gewärtig sein, dass es jederzeit von den Umständen ad absurdum geführt werden kann. Die Welt, in der wir leben, hat offenbar ihre gewohnte Berechenbarkeit teilweise eingebüßt – an sich schon eine interessante Beobachtung, die weitere Beachtung verdient.
Die „Zukunft“, in die man beim „Planen“ zu blicken versucht, ist komplexer geworden. Sie besteht nicht einfach in einer Verlängerung der Gegenwart; sie besteht auch nicht in einer logisch-empirischen Antizipation künftiger Situationen.
Dass ein Augenblick schnell kommt und schnell vergeht (V), dass trotz aller Sorgfalt keineswegs sicher ist, wie es weitergeht (U), dass alles mit allem in einem nicht leicht zu durchschauenden Zusammenhang steht (C), und dass schließlich die Phänomene sich oft nicht eindeutig deuten lassen (A) – dies alles betrifft nicht nur seit einigen Jahren die Wirtschaft, sondern auch unser alltägliches Leben. Die Pandemie-Verhältnisse zeigen das geradezu mustergültig (Näheres: Dietz, Führen in der VUCA-Welt. Dialogische Orientierungen, 2020).
Unter diesen Umständen ruft man gerne nach einer Autorität. Da gibt es meist schon mehrere, die miteinander diskutieren. Und schon bilden sich Anhängergruppen und „Parteien“, die sich bekämpfen. Was dabei herauskommt, mag jeder selbst beurteilen. – Das übliche Diskutieren ist jedoch nur ein Weg, und vielleicht nicht der effektivste. Ein anderer Weg wäre der Dialog.
Während in der „Diskussion“ die Teilnehmer aufeinander „schlagen“ (das liegt schon in dem lateinischen Wort discutere), sich also mit Argumenten und Gegenargumenten auseinandersetzen, geht der (von Sokrates erfundene) „Dialog“ anders vor: Man versammelt sich mit seinen unterschiedlichen Ausgangspositionen um eine gemeinsame Fragestellung, die es zuerst zu klären gilt und zu der dann die Gesprächspartner – jeder mit seinem Blickwinkel und seiner Erfahrung – ihre Ansicht beitragen. Vieles, was in einer Diskussion als gegensätzlich erscheint, also Widerspruch hervor ruft, zeigt sich im Dialog als ein Aspekt des Ganzen, der (möglichst in gemeinsamer Bemühung) erweitert und ergänzt wird, bis ein zusammenhängendes Ganzes zutage tritt.
Anfängliche Beispiele für dieses Vorgehen sind die sokratischen Dialoge Platons und ihre inneren Kriterien, die allerdings zunächst noch nicht bis zu Lösungen der Ausgangsfrage vorstoßen (Dietz, Sokrates: ich – hier - jetzt, 2019).
Ob eine Diskussion geführt wird oder ein Dialog, ist letzten Endes eine Haltungsfrage. Worauf will ich (wollen wir) hinaus? Will ich (wollen wir) meine (unsere) bewährte Ansicht durchsetzen oder wollen wir gemeinsam nach einer Lösung suchen? – Davon hängt nicht nur der menschlichen Umgang unter den Beteiligten ab, sondern auch die Effizienz des Gesprächs. Auch sie beruht auf der Fähigkeit der Gesprächsteilnehmer zur Selbstwahrnehmung und Selbstkritik.
Dialog hat, so könnte man sagen, eine Voraussetzung, die nicht selbstverständlich ist: dass jeder Beteiligte seinem eigenen Einsichtsvermögen nichts in den Weg legt.
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